Seit 1990 beschäftigt uns Hildegard von Bingen.
Seit 1998 führen wir zu Leben und Werk.
Seit 2003 tragen wir die Spielgemeinschaft zu Bingensis Leben und Werk.
Wie dichter Rauch in Menschengestalt war das vierte Bild.
Hatte weder menschliche Glieder,
außer etwas, was wie große, dunkle Augen schien.
Noch bewegte es sich, um auf- oder abzusteigen,
sich diesem oder jenem zuzuwenden.
Sondern blieb starr unter dem Schatten.
Es sprach:
OBDURATIO - Herzenshärte
Schuf nichts. Sah nichts vor.
Warum also mich zerreißen,
mich kümmern um ein Anliegen?
Mache ich nicht.
Was mir nichts bringt, kümmert mich nicht,
Gott schuf alles.
Soll Er entscheiden. Sorge tragen.
Gebe ich Laut, schmeichele mich in fremde Angelegenheit,
was nützt mir das?
Füge niemandem irgendetwas zu.
Nichts Böses. Nichts Gutes.
Was, wäre Erbarmen in mir so groß,
dass ich nicht zur Ruhe käme?
Wie wäre mein Leben, antwortete ich all den Stimmen,
die sich freuen oder klagen?
Kenne mich. Jeder soll sich kennen.“
Wieder hörte ich, wie eine Stimme aus der Sturmwolke
diesem Bilde Antwort gab:
MISERICORDIA – Barmherzigkeit
Versteinerung, was sagst Du?
In ihrem Blühen gewähren Pflanzen
anderen Pflanzen ihren Duft.
Feuchtigkeit schenkt ein Stein dem anderen.
Bereit ist jedes Geschöpf, alles zu umfangen,
was es kennt.
Alle Geschöpfe dienen dem Menschen.
Tun in diesem Dienst dem Menschen gerne wohl.
Du aber bist nicht wert,
an Menschengestalt teil zu haben.
Schaust grimmig ohne jedes Mitleid.
Bist boshafter Schwärze bitterster Rauch.
Bin süßeste Saat in Luft, in Tau, in aller Lebenskraft.
Voll sind meine Adern, jedem Hilfe zu gewähren.
War denn im „Es Werde“.
Daraus entstanden alle Geschöpfe,
die dem Menschen dienen.
Du aber warst dort ausgeschlossen.
Betrachte alles Notwendige, verbinde mich damit,
sammele Gebrochene zur Heilung.
Bin denn da, Schmerzen zu beenden.
So sind meine Reden da recht und richtig,
wo du bitterer Rauch bist.
Hildegard von Bingen - LVM I
Das dritte Bild ähnelte einem Menschen.
Hatte nur eine gewundene Nase.
Seine Hände waren wie Bärentatzen.
Seine Füße wirkten wie Greifenfüße.
Es hatte schwarze Haare,
war bekleidet mit ausgebleichtem Gewand.
Und sprach.
IOCULATRIX – Spasssucht
Besser spielen als Trübsal blasen.
Spiel ist kein Frevel.
Wer Gott kennt, freut sich und singt.
Freut der Himmel alle Geschöpfe,
freue ich mich auch mit ihnen.
Zeige ich mich Menschen traurig,
schrecken sie vor mir zurück und weichen aus.
Das mache ich nicht.
Sondern bewege mich in vielen Spielarten,
damit sich alle mit mir freuen.
Gott schuf die Luft.
Süßen Klang trägt sie mir zu,
bietet mir Blüten voller Leben,
meine Augen daran zu weiden.
Was soll ich mich daran nicht freuen?
Menschen spielen mit Tieren,
wie Tiere mit Menschen spielen.
Das kommt gerade recht.
Wieder hörte ich aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde antworten:
VERECUNDIA – Bescheidenheit/Wahrhaftigkeit
Du verehrst Götzen.
Machst sie ganz nach deinem Willen.
Bist totes Klatschen von Menschenhänden
in der Luft.
Dein Verlangen - zugleich menschlich und tierisch.
Verhältst dich teils Mensch, teils Tier.
Dein ganzes Verhalten gleicht dem von Kreaturen.
Toten, nicht lebendigen.
Bekommst, was immer du begehrst.
Wandelst der Eitelkeit wechselnde Wege.
Erröten macht mich all dies.
Bedecke mich mit Cherubsflügeln.
Lerne Gottes Geheimnisse
in Bänden und Gottesgesetzen.
Lebe auf in allen Himmelsdingen.
Sehe denn mit der Unschuld Augen.
Betrachte
rechtes Handeln nach Gottes Willen
von allen Seiten.
Das du in unwissender Blindheit fliehst.
Hildegard von Bingen - LVM I
Das zweite Bild war wie ein Jagdhund,
stand auf seinen Hinterläufen,
hatte seine Vorderläufe über einen Stock gelegt,
und wedelte mit dem Schwanz. Es sprach:
PETULANTIA – Leichtsinn
"Was schadet Vergnüglichkeit dem Menschen,
sie lässt ihn doch so leicht lachen?
Steckt doch ein hübsches Lüftchen in der Seele,
dass sie klingen muss.
Welcher Mensch ist schon stets bereit zu sterben ?
Niemand!
Drum soll er sich freuen, solange er kann."
Wieder hörte ich aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde antworten:
DISCIPLINA – Disziplin: Die Fähigkeit, zu lernen
Halunke,
wie schmuddelige Spassmacher
gleichst du tönendem Wind.
Du bist in deiner Wechselhaftigkeit
wie Gewürm, das Erde umgräbt.
Beachten die Menschen dich,
denen du im Scherz begegnest,
geben sie dir nach, geht Anstand vor die Hunde.
Bringst sie, zu begehren, was immer sie wollen.
Schwingst müßige, unrechte Rede,
verwundest so die Menschenherzen.
Schaffst dir regelmäßig und gewohnte Wege,
Menschen zu vereinnahmen.
Bin aber Gürtel der Heiligung,
Mantel der Wahrhaftigkeit,
der Hochzeit des Höchsten Königs
verbunden in allen Ehren.
Erscheine dort mit der Freude eines gut gezogenen Schösslings.
Erbebe da in der Gerechtigkeit vollständigem Schmuck.
Hildegard von Bingen - LVM I
Das erste Bild hatte Menschenform.
Dunkel wie ein Brandgesicht,
umklammerte es mit Armen und Schenkeln nackt
einen Baum unterhalb der Zweige.
Aus diesen wuchsen Blüten aller Art.
Mit seinen Händen riss es Blüten ab,
und sprach:
AMOR SAECULI - Liebe zur Zeit
Beherrsche vollkommen die Welt
in ihren Blüten und Geschmeiden.
Wie kann ich welken, habe ich doch volle Lebenskraft?
Warum leben wie im Alter, strotze ich vor Jugendkraft?
Warum blind sein für schönen Augenschein?
Würde schamrot, das zu tun.
Solange ich die Schönheit dieser Zeit besitze,
halte ich gerne daran fest.
Anderes Leben? Mir unbekannt.
Fabeln höre ich davon, aber kenne es nicht.
Als es das sprach, verdorrte der Baum,
ging entwurzelt in Flammen auf,
und stürzte in den Schatten.
Und das Bild stürzte mit ihm.
...
Aus der Sturmwolke hörte ich
eine Stimme diesem Bild antworten:
AMOR CAELESTIS – Liebe zum Himmel (zum Zeitlosen)
Du bist so dumm.
Begehrst zu leben wie verglühende Asche.
Suchst nicht das Leben,
in dem Jugendschönheit nie welkt,
das niemals abnimmt, selbst im hohen Alter.
Dir fehlt alles Licht.
Bist von tiefschwarzer Finsternis.
Allzu menschliches Begehren bedeckt dich wie Ungeziefer.
Lebst für den Augenblick.
Verdorrst später dann - wie Heu.
Stürzst in einen See aus Untergang.
Verendest dort, völlig verfangen darin,
was du als Blüten siehst und nennst.
Bin aber Säule himmlischen Einklangs.
Habe vollkommener Lebensfreude Teil.
Weise das Leben nicht zurück,
sondern zerschmettere alles, was ihm schadet.
Verachte so auch dich.
Bin denn Spiegel aller Kräfte.
Wer glaubt, betrachtet sich gründlich darin.
Du aber läufst auf nächtlicher Bahn.
Deine Hände schaffen den Mangel.
Hildegard von Bingen. LVM I.
'Und ich sah einen Menschen von solcher Größe,
dass er sich von hoch in den Wolken
bis zum tiefsten Abgrund streckte,
und sich ab seinen Schultern
über den Wolken im klarsten Äther befand.
Von seinen Schultern bis zu seinen Oberschenkeln
stand er unter der Wolkendecke
wie in einer strahlenden Wolke.
Von seine Oberschenkeln bis zu seinen Knien
in erdnaher Luft.
Von seinen Knien bis zu seinen Waden
stand er in der Erde.
Von seinen Waden bis zu seinen Sohlen
stand er in den Wassern der Tiefe,
und so auch über dem Abgrund.
Und er hatte sich nach Osten gewandt,
so dass er Osten und Süden betrachtete.
Bingensis. LVMI
...
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