LVM III/1 Superbia - Humilitas
Das erste Bild hatte ein Frauengesicht.
Seine Augen waren feurig,
seine Nase verschmiert und schmutzig,
sein Mund geschlossen.
Arme und Beine fehlten.
Doch auf jeder Schulter war ein Flügel wie Wespenflügel,
so dass sich der rechte nach Osten,
der linke nach Westen streckte.
Es hatte eine Männerbrust,
Knie und Füße waren die einer Heuschrecke,
so dass Bauch und Rücken fehlten.
Ich sah, dass weder Haare noch Kleidung
seinen Kopf und übrigen Körper bedeckten,
war es nicht sogar ganz in Finsternis gebunden,
außer, dass sich ein sehr dünner Faden
wie ein goldener Ring an der Oberfläche
am Wirbel unter seinem Kinn zu beiden Seiten zog.
Es sprach:
SUPERBIA - Stolz
Ich schreie über die Berge. Wer gleicht mir?
Meinen Mantel breite ich über Hügel und Lande,
will nicht, das jemand gegen mich ankämpft.
Ich kenne keinen, der mir gleicht.
Und ich hörte eine Stimme aus der Sturmwolke,
die sich von Süden nach Westen erstreckte,
diesem Bilde antworten:
HUMILITAS - Erdgebundne Bodenständigkeit (Demut)
Bin Säule von Wolken.
Sollte warum nicht ertragen,
wenn man mich mit schrecklichem Unrecht
erschüttern will?
Stieg doch der Schöpfer selbst vom Himmel herab,
den Menschen an sich zu ziehen?
Wohnte mit dem Schöpfer auf höchsten Höhen,
stieg mit ihm zur Erde hinab.
Wohne so in allen Ländern der Erde.
Kann so auch keine falschen Worte sprechen,
wie würde ich sagen,
'Bin dies und jenes', bin ich es nicht.
Sagte ich dies, wäre ich nicht die Sonne,
die Finsternis erhellen kann.
Denn mit Gott durchbreche ich alle Dunkelheiten.
So kann auch kein Sturm mich erschüttern,
denn bin mit Gott auch im vollen Maß seiner Güte.
Hildegard von Bingen - LVM III