LVM II/7 Immoderatio - Discretio
Das siebte Bild war wie ein Wolf,
lag mit gebogenen Flanken über seinen Pfoten.
Schaute umher, alles, was es reißen konnte,
zu verschlingen.
Es sprach:
IMMODERATIO - Maßlosigkeit
Suche, was immer ich sehne oder wünsche.
Halte mich von nichts zurück.
Warum sollte ich, erwartet mich doch keine Vergeltung?
Wie ablegen, was ich bin,
verhält doch jede Art sich artgerecht.
Lebte ich, als könnte ich kaum atmen,
was wäre dann mein Leben?
Mache, was immer Spiel und Lachreiz bietet.
Freut sich mein Herz, warum es binden?
Sind meine Venen voll Behagen, warum sie schröpfen?
Weiß ich zu reden, warum schweigen?
Meines ganzen Leibs Bewegung ist mein Heil.
Wie geschaffen, handle ich.
Warum mich in anderes verwandeln, als ich bin?
Jedes Geschöpf wächst nach seiner Natur,
handelt nach dem, das ihm entspricht.
So auch ich.
Und wiederum hörte ich aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde antworten:
DISCRETIO - Kraft der Unterscheidung
Fallensteller -
Benagst alles in deinem Hinterhalt,
was aus Vernunft ehrlich.
Ähnelst Tierbrut ohne Maß.
Handelst wie ein unmündiges Biest.
Denn in Gottes Ordnung
gibt alles einander Antwort.
Vom Mondlicht schimmern Sterne.
Der Mond leuchtet vom Sonnenfeuer.
Alle sind ihren Oberen untergeben,
ihr Maß nicht zu überschreiten.
Schaust weder auf Gott noch seine Schöpfung.
Gehst vor wie eine leere Scheide, bewegt vom Wind.
Wandle aber auf des Mondes Weg,
der Sonnen Straße.
Betrachte alle göttliche Ordnung.
Wachse daran in ehrlichem Anstand.
Zähle und zahle das vollständig in Liebe aus.
Bin denn Fürstin im Palast des Königs.
Erforsche all seine Geheimnisse.
Weise keines leer ab.
Sondern erfasse das, verstehe jenes.
leuchte auf mit ihnen wie der Sonnenglanz.
Du aber bist zersetzende Krankheit.
Den Würmern Aas.
Hildegard von Bingen - LVM II