LVM II/3 Impietas - Pietas
Aber das dritte Bild hatte Menschenform.
Nur ragte sein Kopf zwischen den Schultern
aus der Brust hervor,
ähnelte so mehr einem Tier- als einem Menschenkopf.
Er hatte große feurige Augen,
eine Schnauze wie ein Leopard.
Von seinen Wangen lief auf beiden Seiten
eine pechfarbene Linie hin zum Kinn.
Aus seinen Mundwinkeln hing ein Schlangenkopf,
spie viele Flammen mit seinem Fang.
Es stand auf den Knien, den übrigen Körper aufgerichtet.
Seinen Kopf umgab ein schwarzer,
pechfarbener Frauenschleier.
Der übrige Körper war gehüllt in tiefschwarzes Gewand, von dem leere Ärmel hingen.
Denn seine Arme hatte es nach innen
ins Gewand gezogen.
Es sprach:
IMPIETAS - Unglaube
Will weder Gott noch dem Menschen gehorchen.
Gehorche ich einem anderen,
achtet der auf seinen Vorteil, befiehlt mir,
danach zu handeln, missachtet meinen Nutzen,
spricht „Geh weg!“
Aber das geschieht nicht.
Fügt mir jemand Unrecht zu,
zahle ich ihm es hundertfach heim.
Meine Angelegenheiten bestelle ich so,
dass keiner wagt, mir Widerstand zu leisten.
Will denn unter niemands Füßen liegen.
Was immer mir Vorteil bringt, veranstalte ich.
Wie jeder handelt, der kein Narr.
Will Gott, dass ich mache, was ihm gefällt,
so lasse er mir nichts als Gutes angedeihen.
Und wiederum hörte ich aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde antworten:
PIETAS - Verbundenheit
Teuflisch grausam bist du,
hast große Bosheit in dir.
Erlaubte Gott dir, alles zu tun, was du willst,
was wärst du dann?
Gäbe Gott dir Gutes für deine bösen Taten,
wo wäre dann das Szepter seiner Macht?
Als du Böses begannst,
warf Gott dich wie ein Senkblei in den Abgrund.
So nehmen alle Geschöpfe deine Verfolgung auf.
Wo ist nun deine Macht?
Finsternis, Frevel, Zerstörung sind in dir.
Wo weidest du? In Verwirrung.
Wo wohnst du?
Wo einer gegen den anderen ist.
Jeder sein Unglück benagt.
In Bosheit Totschlag und Blutvergießen sind.
Hildegard von Bingen - LVM II