LVM II/1 Ingluvies - Abstinentia
In den Schatten sah ich eine Gestalt
müßig wie eine Schlange in den Schatten liegen.
Ihre Augen brannten wie Feuer,
ihrem Mund entquoll ausgedehntes Gerede,
ihr Schwanz war abgeschnitten.
Ihr Körper war von schwarzer Farbe.
Linien, bleich, giftig gefärbt,
zogen sich von ihrem Kopf über ihre ganze Länge.
Ihr Bauch war offen.
Darin erschien eine Menschenform,
lag träge wie in einer Wiege.
Auf ihrem Kopf trug sie eine Kappe,
aufgerichtet wie ein Lederhelm,
darunter fielen weiße Haare auf ihre Schultern.
Sie trug ein Gewand aus feiner weißer Seide,
darüber einen Mantelumhang,
dessen Farbe war der Schlange ähnlich.
Und die Gestalt sagte:
INGLUVIES - Schlund
Gott hat alles erschaffen.
Warum mich aufzehren darin?
Würde Gott nicht des Lebens Nöte kennen,
hätte er sie nicht gemacht.
Wäre dumm, folgte ihnen mein Verlangen nicht.
Gott will, dass dem Menschenleib nichts fehlt.
Wieder hörte ich aus der leuchtenden Wolke,
von Süden nach Westen ausgedehnt,
eine Stimme diesen Worten antworten:
ABSTINENTIA - Enthaltsame Zurückhaltung
Niemand schlägt seine Laute so sehr,
dass ihre Saiten springen.
Wie klingt sie, sind ihre Saiten gerissen?
Gar nicht.
Du, Schlund,
schlägst dir den Bauch so voll,
dass sich alle deine Adern
krank vor Aufruhr winden.
Wo bleibt da der Weisheit süßer Anklang,
den Gott dem Menschen gab?
Stumm und blind bist du,
weißt nicht, was du redest.
Wie Sturzregen Erde zerstört,
führt Überfluss in Fleisch und Wein
den Menschen zu Hohn und Frevel.
Sah aber im Lehm die schöne Form.
Darin begründete Gott den Menschen.
Bin daher wie maßvoller Regen,
damit keine Makel wuchern über seinem Leib.
Erfülle Menschen mit Mäßigung,
dass ihrem Körper nichts fehlt.
Er nicht anschwillt,
mit mehr nahrhafter voll Speise als notwendig.
Bin denn Laute, klinge in allen Lobestönen,
durchdringe mit gutem Willen Herzenshärte.
Nährt der Mensch mit Maßen seinen Körper,
klinge ich zu seinen Gebeten
im Himmel auf als Lautenklang.
Ist sein Körper aus maßvoller Ernährung lauter,
singe ich in Orgeltönen.
Du, Schlund, kennst und verstehst das nicht.
Versuchst nicht, zu erkennen oder zu verstehen.
Fängst bald an, so in Übermaß zu fasten,
dass du kaum leben kannst.
Füllst bald deinen Wanst so gefräßig mit Speise, dass du Schaum und Glut erbrichst.
Aber ich setze das Maß bei Speisen so,
dass weder der Saft im Menschen trocken wird,
noch er zunimmt über Maß.
Lobpreise dann in ihm mit Lautenklang,
singe in Orgeltönen.
Ihr alle, die ihr glaubt, bleibt dem Gierschlund fern!
Der alte Schlangenbauch
hat ihn schon verschlungen,
viel Abschaum durch ihn ausgewürgt.
Hildegard von Bingen - LVM II