LVM IV/4 Inconstantia – Constantia
Ich sah in der Finsternis ein Rad liegen wie ein Wagenrad.
Wind trieb es an, ließ es kreisen wie einen Mühlstein.
Seinen Speichen waren vier Keulen eingelassen,
aufgerichtet wie zu Menschenform.
Zwischen ihnen stand über den Speichen
ein Menschenbild, hielt eine von den Keulen in jeder Hand,
hatte zwei andere in seinem Rücken,
drehte sich mit dem Rad.
Es hatte dunkle, krause Haare,
Hände ähnlich Vorderfüßen,
Füße einem Greifvogel ähnlich.
Sein Gewand war aus verschiedenem Leinen
weißer und schwarzer Farbe.
Mal warf es Netze aus, Beute zu machen.
Fing aber nichts.
Es sprach:
INCONSTANTIA - Unbeständigkeit
"Warum soll ich nicht wissen, was ich bin?
Was ich weiß, mache ich.
Machte ich das nicht, wäre ich dumm.
Was ich bewundere, machen viele.
Weise sich dumm, Reiche sich arm,
Zuverlässige sich leichtfertig.
Sage, was ich bin.
Sage, was ich will, so oft ich Möglichkeit habe dazu.
Wäre sonst wertlos.
Schafft der Handwerker nicht das Werk,
das er vollbringen kann,
verlässt er seine Kunst und übt sie nicht,
wird er Tagelöhner.
Das Schicksal lehrt das auch.
Will der Mensch Wohlstand erreichen,
soll er machen, was er will.
Endet dieser Wohlstand,
vermag er nicht mehr, was er will.
Das ist redlich.
Und wieder hörte ich eine Stimme aus der Sturmwolke,
die diesem Bilde Antwort gab:
CONSTANTIA - Beständigkeit
Bist dumm und leer,
verlassen von der G-ttesgabe großer Kraft.
Pass daher auf.
Der Verwirrer tat, was er wollte,
und stürzte dafür in den Abgrund.
Adam tat, wozu er Lust hatte,
ist daher sterblich mit seinem ganzen Geschlecht.
Goliath vertraute, zu vollenden, was er wollte,
und jener Junge David hat ihn überwunden.
Dein Sohn Nebukadnezar übernahm von dir,
was er konnte.
Und was war sein Ende?
Und deine anderen Kinder, wie führten sie zu Ende,
was sie von dir bekamen?
Gott gab dem Menschen Fähigkeit, zu handeln,
teilte ihm auch Bewusstsein zu,
zu unterscheiden, was ehrenvoll, was unehrenhaft.
Gab dem guten Gewissen das Schwert,
dem schlechten Gewissen aber die Keule.
Zuckt der Leib, willigt Geist ein,
Unnützes zu vollbringen,
schwingt gutes Gewissen sein Schwert
gegen schlechtes Gewissen.
Schlechtes Gewissen hält seine Keule dagegen.
So soll der Mensch voraus bedenken, was ihm nützt.
G-tt schafft schlechtem Gewissen einen Tümpel,
gutem Gewissen eine Leiter in den Himmel.
Sie ist Stärke von G-tt.
Größtes Übel, bist wie der Tod,
wählst das eine, verachtest das andere.
Steigst in den Tümpel.
Verschmähst die Leiter,
die hinauf zum Himmel führt.
Hildegard von Bingen - LVM IV