LVM IV/2 Torpor – Fortitudo
Aber das zweite Bild hatte ein Knabengesicht,
weiße Haare, trug eine Tunika von bleicher Farbe.
In die hatte es seine Arme und Hände gesteckt,
bedeckte mit ihr seine Füße und sonstigen Glieder so,
dass ich keine andere Gestalt an ihm unterscheiden
konnte. Es sprach:
TORPOR - Stumpfsinn
Was soll ich enges, arbeitsreiches Leben aushalten,
so viele Sorgen ertragen, mache ich nicht viele Fehler?
Jedem Geschöpf nützt, es selbst zu sein.
Viele weinen und klagen, quälen ihren Körper so,
dass sie kaum leben können.
Haben trotzdem schlechte Sitten,
fügen einen Fehler an den anderen.
Was nützt ihnen diese Mühe?
Dagegen lebe ich besser als sie
in Weichheit und Arbeitsvermeidung.
Will nicht anpacken.
Meide ich Arbeit und anderes, was mir schadet,
wie kann Gott mich dafür verdammen?
Wieder hörte ich eine Stimme aus der Sturmwolke,
die diesem Bilde Antwort gab:
FORTITUDO - Stärke
Asche von Asche, Verglühen widrigen Gestanks,
Gift warst du im ersten Anfang körperlichen Seins.
So sind deine Taten bis jetzt nutzlos.
Ähneln so weder Würmern,
wie sie sich in ihren Gängen mühen,
was sie nährt, zu sich zu ziehen,
noch Vögeln, wenn sie ihr Nest zusammen sammeln,
in engsten Futterplätzen suchen,
wovon ihr kleiner Körper leben kann.
Was ist lebendig in diesem Leben
und lebt ohne Sorgfalt ?
Nichts.
Weit entfernt ist dieses Leben jenem Wunsch,
im Paradies zu verharren,
wo Augenlicht nie finster wird vor lauterem Glück.
Armselige Ansicht ohne G-tt,
verworfene Weichherzigkeit ohne G-tt,
willst aber haben, was dir keiner gibt.
Willst denn ohne jede Mühe erreichen,
was du in deiner stumpfsinnigen Unlust
nicht annehmen kannst.
Diene aber der Löwenkraft,
also dem Menschsein des Erlösers,
im königlichen Brautgemach.
Ersehne alle G-ttesgüter,
erreiche fliegend alle Orte,
wie einer seinen Mantel weit und breit macht.
So rufen mich alle Sprachen, alle Menschenvölker,
wollen sie im Guten bleiben,
streben mich zu erlangen,
halten dich aber für nutzloses Aas.
Hildegard von Bingen - LVM IV