LVM III/5 Infidelitas - Fides
Das fünfte Bild hatte bis auf den Kopf Menschengestalt.
War von den Knien zu den Sohlen in Finsternis gebunden.
An seinem Kopf zeigte sich weiter keine Form,
außer dass es überall voll tiefschwarzer Augen war.
Wie auf seiner Stirn war darunter ein Auge,
flackerte manchmal wie Feuerbrand.
Seine rechte Hand hatte es auf seine Brust gelegt,
hielt in seiner Linken tatsächlich einen Heroldsstab,
hatte einen Mantel von schwarzer Farbe umgeworfen.
Sprach:
INFIDELITAS - Unglaube/ Misstrauen
Kein Leben kenne ich als jenes,
das ich sehe und berühre,
das ich anfassen und tätscheln kann.
Welchen Lohn bringt mir Leben im Zweifel?
Dazu sage ich: Entweder ist es, oder nicht.
So finde ich nichts, zu suchen oder zu fordern,
zu sehen, zu hören oder zu wissen.
Sehe ich ab und zu Nutzen in der Schöpfung Angesicht,
was hindert mich?
Gehe aber nicht auf Wegen
oder durchflattere irgendein Wissen,
kenne ich mich nicht gut aus darin.
Denn über Windes Flügel will ich fliegen,
werde ich auf der Erde aufgerieben.
Befrage ich Sonne und Mond, was zu tun,
antworten sie mir gleich.
Höre ich einen Ton, weiß ich nicht,
ob er mir nützt oder schadet.
Höre auch viele Gerüchte, viele Gespräche, viele Lehren.
Kenne sie nicht.
So will ich tun, was immer mir besten Vorteil bringt.
Wieder hörte ich aus der Sturmwolke
eine Stimme diesem Bilde Antwort geben.
FIDES - Glaube/ Vertrauen
Schlimmster Part, Verwirrers Täuschung,
Verneinst in deiner Brust alles, was recht.
Zeigst so auf dein Herz.
Denn deiner Gedanken Absicht
zielt auf den Widersacher.
Zu deiner Rechten steht er.
Darum sind deine Augen auch so dunkel.
Kannst der Erlösung Pfad nicht sehen,
der zum Himmel steigt.
Nacht, dich zerdrückt er,
wie Rechtes her fällt über Linkes.
Ruhmreich in seinem Steigen,
unterwirft gerechter Weg auch dich.
Denn schlechtes Gewissen heißt
guten Gewissens Magd.
Mag eine Magd nicht dienen,
erfüllt die Herrin nicht ihrer Magd Pflicht?
Hat daher ruhmreichen Namen. Und heißt Herrin.
Gehst verdammt daher.
Verschlimmerst gegen dich den Richterspruch.
Fliehst alles, was im Glauben leuchtet.
Dein schlaues Reden wirft Menschen,
die du täuschst, stets Frevel entgegen.
Nicht wandeln willst du der Gottesgebote Weg.
Gemeinsam mit den Engeln aber
lobe ich voll Vertrauen Gott.
Will alles, was von Gott kommt.
Schreibe all seinen Ratschluss mit den Cherubim.
Wie Gott ihn sieht, verkündet er.
Beurteile aber auch alles durch Propheten,
Weise und Schrift.
In Gottes Gerechtigkeit strahlen
alle Weltreiche auf mich zurück.
Bin Spiegel in Gott,
blitze denn in allen Gottesgesetzen auf.
Hildegard von Bingen - LVM III